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Wenn am Ende der Welt die Sonne nicht untergeht


Mitternacht. Mein Wecker klingelt. Draußen scheint die Sonne. Ich schäle mich aus dem Schlafsack, eine Kältewelle erfasst mich. Die Gipfel der Berge, die den Campingplatz umgeben, verstecken sich in Wolken, die so flauschig aussehen, dass man sie am liebsten in den Arm nehmen würde. Ich lasse den Motor an, die Windschutzscheibe beschlägt, das Thermometer misst 5 Grad. Mit Sonnenbrille und Fotoapparat ausgerüstet, breche ich auf, den nördlichsten Punkt Europas zu erkunden.

Rita, mein Auto, legt sich geschmeidig in die Kurven. In den letzten Tagen hat sie mich etwa 1.600 km weit gebracht. Ich bin stolz auf sie. 16 Jahre lang zuckelte sie bestenfalls mit einer älteren Dame am Steuer zum Dorfsupermarkt, jetzt ist sie im Begriff die Welt zu erobern. Genau wie ich.

Mein Startpunkt liegt etwa zehn Kilometer vor dem Abzweig zur E69, einer Straße im äußersten Norden Norwegens, die ins Nichts führt. Die E69 ist so schmal und kurvig, dass es zwar Spaß macht sie zu fahren, aber jedes entgegenkommende Fahrzeug einen kleinen Schreckmoment verursacht. Und es gibt Gegenverkehr. Die Pforte zum Nordkapparkplatz schließt um 1 Uhr nachts, danach ist das Außengelände frei zugänglich, Ausstellung und Souvenirshop bleiben geschlossen. Jeder Reisebus, der mich fast in den Straßengraben drängt, bedeutet also 60-120 Touristen weniger, die sich um ein Foto mit der eisernernen Weltkugel prügeln.

Alle 200 Meter zuckt mein rechter Fuß. Am liebsten würde ich an jeder einzelnen Kurve stehen bleiben und ein Foto machen. Doch ich muss ja irgendwie voran kommen und verschiebe die Fotostops auf den Rückweg.

Der Parkplatz des Nordkap versprüht eine seltsam ruhige Atmosphäre. Dort parken geschätzt 200 Wohnmobile, Campingvans und Wohnwagen mit verschlossenen Gardinen. In den meisten von ihnen schlafen Menschen, die sich den schönsten Moment entgehen lassen: die Mitternachtssonne am nördlichsten Punkt auf dem europäischen Festland.

Ich laufe am geschlossenen Besucherzentrum vorbei. Geisterhaft. Von weitem hört man Stimmen. Ein paar Besucher tummeln sich um den eisernen Globus, der in einem dichten Nebelschleier am Ende eines imposanten Felsens trohnt. Ein paar junge Australier haben sich Wein und Sekt mitgebracht, um diesen Moment zu feiern. Schon bald verkünden sie lautstark pinkeln zu müssen und die zurückbleibenden Besucher genießen ihren Moment am Ende der Welt in andächtiger Stille.

Es werden in vielen verschiedenen Sprachen, verschiedene Kameras und Handys hin und her gereicht und sich gegenseitig fotografiert. Ich fotografiere ein älteres französischsprechendes Pärchen. Fünf Jahre Schulfranzösisch machen sich bezahlt und ich bitte sie in ihrer Muttersprache darum ein Bild von mir zu machen. Touri-Foto, check.

Ein paar Motorräder rollen ein und ein Mann, der ein bisschen aussieht wie der spanische Schauspieler Javier Bardem, positioniert sein Gefährt vor seiner Kamera auf dem Stativ, und schließlich sich und seine Freundin vor der Weltkugel. “We are from Sevilla!” verkündet sie stolz. Ich glaube letztlich führen gar nicht alle Wege nach Rom. Sondern ans Nordkap.

Der Felsen mit der Kugel ragt aus dem Nebel, Silhuetten von Besuchern mit Motorrädern sind zu sehen
Ein letzter Blick zurück. Von links: Javier Bardem mit Kamera und Stativ, seine Freundin und sein Motorrad, weitere Besucher
Rentiere grasen auf und neben einer Straße
Und beim Verlassen des Parkplatzes: Rentiere

 

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